Erzähl uns von dir!

This is mequeer und religiös?

Erzähl uns von dir!

In unserer Sonderausstellung „This is me. queer und religiös?“ stellen wir dir 15 beeindruckende Persönlichkeiten vor. Sie erzählen davon, wie es für sie ist in Deutschland queer und religiös zu sein. Wir zeigen, dass viele Menschen ganz selbstverständlich diese beiden Teile ihrer Identität miteinander verbinden.

Jetzt kommst du: Erzähl uns von dir und deinem Leben! Bist du queer und religiös? Lässt sich das für dich miteinander verbinden? Schick uns deine Geschichte und deine Fotos zu und werde Teil von THIS IS ME.

Mach mit!
© Ceren Saner
© Ceren Saner
„Anfangs hatte ich Zweifel, aber dann fragte ich mich: Was ändert sich eigentlich? Kann ich weiter Tugend (Sīla) üben? Ja! Kann ich weiterhin meditieren? Ja! Ich bleibe menschlich. Ich werde weiterhin ein Mensch sein!“
Theresa © Ceren Saner
Theresa © Ceren Saner
Theresa © Ceren Saner
Theresa
Ärztin, Berlin, trans Frau

meiner frühen Kindheit wichtige Teile meines Lebens. In meiner buddhistischen Praxis verbindet sich für mich beides. Meine Queerness, mein Trans-Sein, konnte ich mir nicht aussuchen – anders als meine buddhistische Praxis als Weg und Ausdruck meiner Spiritualität. Zu Beginn meiner Transition hatte ich Zweifel, ob ich meinen gewählten buddhistischen Pfad weiter gehen kann.

Ich bin die ersten zehn Jahre meines Lebens in der ehemaligen DDR aufgewachsen, wo Religion keine große Bedeutung hatte. In meiner Jugend bin ich auf meiner spirituellen Suche einige Jahre in die evangelische Christenlehre gegangen. Unser Pfarrer lehrte uns Offenheit und dass wir alle gleichwertig sind. Aber immer wieder zog es mich zu den östlichen Religionen und Philosophien. Die Arbeit an mir selbst, die Selbstreflexion, und der immer wieder neu zu fassende Entschluss, menschlich, also ein guter Mensch zu sein, ist ein wichtiger Teil meiner buddhistischen Praxis.

Dass ich trans bin, merkte ich bereits sehr früh, konnte es aber lange nicht deuten oder benennen, schon gar nicht zeigen – ich hatte zu viel Angst vor den anderen und vor mir selbst. Schon während meiner Schulzeit versuchte ich die Grenzen so weit es nur ging zu verschieben und mich zu zeigen, ohne angreifbar zu sein. Im Studium hatte ich dann größte Freiheit und nutzte diese. Mal erschien ich wie ein junger Mann, dann wie eine junge Frau – ich konnte mich noch immer nicht verstehen. In dieser Zeit lernte ich meine Ehefrau kennen. Nach dem Studium begann ich meine Arbeit in einem Krankenhaus. Ich versuchte nun der Erwartung „Mann“ gerecht zu werden und wurde sehr unglücklich. Nach ein paar Jahren fing ich wieder an, Röcke zu tragen – erst in der Freizeit, dann auch auf der Arbeit, später durchgehend. Ich präsentierte mich immer femininer und wurde wieder öfter als Frau angesprochen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich als non-binär gesehen. Als ich privat anfing, weibliche Pronomina zu nutzen, merkte ich, dass das richtig ist. Ich erkannte: „Ich bin trans!“ Ich nutzte von nun an auf der Arbeit für Briefe die weibliche Berufsbezeichnung. Das führte zu einer Nachfrage und ich sprach erstmals gegenüber einem fremden Menschen aus: „Ich bin eine Trans-Person.“ Dieser Moment war für mich erschütternd, weil ich nun erst anfing, mich zu verstehen.

Dass meine Frau, meine Familie, Freunde, alle auf der Arbeit mich akzeptieren und unterstützen, ist ein großes Glück! Aber mir begegnet auch Ablehnung, selbst von Buddhisten. Sie sind auch nur Menschen, und wie alle anderen mal mehr, mal weniger tolerant gegenüber queeren Personen. Feindlichkeiten in buddhistischen Communities zeigen sich meist subtil und diese schöne Lehre wird als Waffe eingesetzt. Dabei bietet mir mein Trans-Sein sowohl wunderbare als auch schmerzhafte Einblicke in die Unbeständigkeit und Vergänglichkeit – ich kann als Trans-Buddhistin in dieser Lehre wachsen. Im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft wünsche ich mir, dass wir uns respektvoll und mit Empathie begegnen. Als Trans-Person möchte ich einfach unbehelligt leben wie andere Menschen auch, ohne Zuweisungen, was ich bin oder wer ich zu sein habe. Kein Mensch sollte sich verstecken müssen für das, was er ist.

© Ceren Saner
© Ceren Saner
„Religiosität und queer sein sind keine konträren gegensätzlichen Identitäten. Für mich hängt beides eng zusammen und bildet keinen Widerspruch.“
Michal © Ceren Saner
Michal © Ceren Saner
Michal
Lehrerin und Bildungsreferentin, Queer-Feministin, Frankfurt am Main

In der Gesellschaft gibt es bestimmte Vorstellungen von religiösen Personen und erst recht von religiösen Jüdinnen. Queere Menschen stellt sich die Mehrheit meist als nichtreligiös vor. Vielen fällt es schwer, beides zusammen zu denken. Mir ist es wichtig zu zeigen, dass sich Queerness und Religiosität wunderbar vereinbaren lassen. Einen Ort, um beides sein zu können, habe ich im Egalitären Minjan in der jüdischen Gemeinde Frankfurt gefunden. Diese Gemeinde war ein wichtiger Ankerpunkt, als ich, in der ehemaligen DDR sozialisiert, Anfang der 2000er nach Frankfurt gezogen bin. Religion spielte in meiner Familie und meinem Umfeld keine Rolle. Diese Zeit des Umbruchs hat mich nachhaltig geprägt und es tat gut, diese vielfältige und internationale Gemeinschaft im Minjan zu haben.

Der Begriff „religiös“ ist mir sehr sympathisch und bezieht sich in erster Linie auf die religiöse Praxis. Dazu gehören Besuche der Synagoge, die Teilnahme an Gottesdiensten und ihre Mitgestaltung sowie die Begehung von Feiertagen. Die Chanukka-Feier beispielsweise, die ich seit vielen Jahren mit mehreren Freund*innen feiere, hat schon Tradition. Der wichtigste Feiertag für mich ist der Schabbat, den ich freitags mit meiner Partnerin oder im Egalitären Minjan begrüße. Zur jüdisch-religiösen Praxis zähle ich zudem gleichermaßen das Lernen wie das Lehren. Beim Lernen sind neben dem Gebet das Selbststudium und die Auseinandersetzung mit dem Text zentral. Das ist etwas sehr Jüdisches.

Für mich hat mein Beruf auch eine politische Dimension, was in meinen Fächern Geschichte und Politik & Wirtschaft Ausdruck findet. Heute sind feministische Ansichten unter jungen Mädchen eher verbreitet und auch Jungen hinterfragen bestimmte Bilder von Männlichkeit. Trotzdem überwiegen gängige Lebenskonzepte, die die gesellschaftlichen Erwartungen von einer Mann-Frau-Beziehung erfüllen. Geschlechtliche und sexuelle Diversität ist die Ausnahme. Die Betrachtung der sozialen Konstruktion von Geschlecht mit all seinen Rollenzuweisungen gehört für mich zum Queer-Feminismus. Für mich bedeutet queer sein immer auch, feministisch zu sein. Queer ist für mich nicht nur eine Sichtweise auf die Gesellschaft, sondern eine Haltung, eine Kritik und Infragestellung des gesellschaftlichen Zwangs zur Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität. Dazu gehört meines Erachtens auch, die eigenen Privilegien sichtbar zu machen. 

Eine Norm, die auch nicht hinterfragt wird, ist die christlich-säkularisierte Kultur. In ihr gelten heterosexuelle Partnerschaften als selbstverständlich. Hier gibt es Mechanismen der Ausgrenzung, der Marginalisierung und der Ignoranz gegenüber dem Anderen und vermeintlich Fremden. Im Geschichtsunterricht beispielsweise kommen Juden*Jüdinnen überwiegend im Kontext der Pestpogrome und Kreuzzüge im Mittelalter und des Holocausts in der Neuzeit vor. Sie sind keine handelnden Akteure, haben keine Subjektivität, keine eigene Kulturproduktion und dienen nur der Erläuterung historischer Ereignisse. In Schulbüchern werden keine Selbstbilder von Juden*Jüdinnen vorgestellt, so dass stets nur eine Bestätigung bereits vorhandener Konzepte als Verfolgte und Opfer erfolgt. Aber auch Kolonialgeschichte und die Geschlechtergeschichte sind meist nicht Teil einer Lehrer*innenausbildung.

Von der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft wünsche ich mir mehr Wahrnehmung und Anerkennung der großen Bandbreite an kultureller und religiöser Vielfalt. Dass ich seit 20 Jahren in Frauenbeziehungen lebe und jüdisch bin, ist vollkommen normal für mich. All denjenigen, die durch Ängste nicht geoutet sind, wünsche ich Verbündete inner- und außerhalb jüdischer Kontexte, die sie in ihrer Entscheidung frei zu leben bestärken. Lehrerin, Bildungsreferentin und queer-feministische Aktivistin zu sein, prägt mein Leben. Ich bin praktizierende Jüdin und genderqueer, das verstecke ich nicht. In der Schule empfinde ich es als sehr schön, einfach Frau Sch. zu sein, egal ob ich einen Rock oder einen Anzug mit Krawatte trage.

© Ceren Saner
© Ceren Saner
„Glauben und Queerness sind untrennbar miteinander verwobene Teile meiner Identität. Sie sind beide mit verschiedensten Strängen meines Seins verknüpft und gehören zur Gesamtheit meines Ichs.“
Kadir © Ceren Saner
Kadir © Ceren Saner
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Kadir
Schriftsteller und Aktivist, Hannover, queer

Glauben und Queerness sind untrennbar miteinander verwobene Teile meiner Identität. Sie sind beide mit verschiedensten Strängen meines Seins verknüpft und gehören zur Gesamtheit meines Ichs. Im Islam, wie ich ihn bei meinen Eltern kennengelernt habe, muss das Individuum Gott nicht in Moscheen suchen, es braucht auch keinen Imam als Vermittler. Alles kann mit Gott selbst verhandelt werden, denn „Allah ist uns näher als unsere Halsschlagader“. Bei der Auseinandersetzung mit meiner Homosexualität und der Frage nach dem Warum hatte ich einen Gesprächspartner. Gott war bei meiner Identitätssuche mein persönlicher Wegbegleiter.

Als meine Familie in den 1990er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, war ich 12 Jahre alt. Zu der Zeit brannten Asylheime in Mölln, Köln und Solingen. In und um unsere Kleinstadt gab es eine ausgeprägte Neonazi-Szene, was beispielsweise dazu führte, dass meine älteren Brüder nur als Gruppe in die Disco gingen. Von einer schwulen Subkultur in der Kleinstadt keine Spur. Film und Fernsehen waren in der Regel homophob und vermittelten ein extrem reduziertes Bild homosexueller Männer: Als bester Freund der Protagonistin, als todgeweihter Aids- oder Krebskranker oder als extrem affektierter Typ. Zusätzlich waren die 1990er-Jahre eine Zeit ohne Internet und ohne Social Media. In meiner Teenagerzeit wurde Homosexualität nicht nur gesellschaftlich und sozial abgelehnt, sondern war durch den § 175 Strafgesetzbuch zusätzlich strafbar. Und wegen meiner nicht-weißen Biographie gab es eh wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit meiner Homosexualität. Gerade für Jugendliche in der Findungsphase braucht es Rückhalt und das war für mich mein Glaube.

Mein Coming-out hatte ich mit 18 nach meinem Auszug von zu Hause. Die ersten Gespräche führte ich mit meinen Geschwistern, erst mit meinen beiden älteren Schwestern, dann mit meinen beiden älteren Brüdern. Mit meinen Eltern hatte ich dagegen nie ein richtiges Coming-out-Gespräch, wobei ich aber auch nichts verheimlichte. Als ich mit meinem damaligen festen Freund zusammenwohnte, kamen sie zu Besuch und sahen, dass es in dieser WG keine getrennten Schlafzimmer gab. Kommentiert haben sie das aber nicht. Mittlerweile ist zu viel Zeit vergangen, um ein Coming-out-Gespräch mit meinen Eltern zu führen.

Doch nicht immer verläuft ein Coming-out in Familien, ob muslimisch oder nicht, so unkompliziert. Viele Beratungsstellen raten zu einem klaren Coming-out. Für Menschen mit Migrationserbe ist das aber nicht immer die beste Option, weil Familie und Community oft eine wichtige Unterstützung für ein Leben in der Mehrheitsgesellschaft bedeuten.

Wenn Queerfeindlichkeit nur im Zusammenhang mit muslimischen Familien thematisiert wird, führt dies zu einer Unsichtbarkeit von Homo- und Transfeindlichkeit in der Gesamtgesellschaft. Innerhalb queerer Communities gibt es auch offenen Rassismus: Zahlreiche Datingplattformen erlauben es aufzulisten, welche Herkunft, Hautfarbe oder Religion man grundsätzlich nicht kennenlernen will. Diese vorformulierte Ablehnung ist unglaublich verletzend. Stets sollen wir vom Gegenüber gedachte Kategorien erfüllen. Das gilt übrigens für die Integrationspolitik per se, deren Botschaft ist: Als Mensch mit Migrationsgeschichte, als Black Person of Colour und dann auch noch queer, sollst du dich so formen, dass du zur Mehrheit passt. Die Botschaft lautet: „Du sollst so werden wie wir“.

Nicht-weiße Biographien unterscheiden sich von weißen Biographien. Aus dieser Tatsache heraus entstand auch unser Verein prismaqueer. Statt Integration im Sinne einer Angleichung zu erwarten, müssen plurale, mehrdeutige und sich wandelnde Identitäten Teil unserer Gesellschaft sein dürfen: Ich bin Kadir. Ich bin ein Mann, verstehe mich als solcher, bin mehrsprachig, pflege ein positives Verhältnis zu anderen Ländern/Nationen und bekenne mich zu Deutschland. Und ich bin queer und Muslim. Ich bin all das – ganz ohne Widersprüche.

© Ceren Saner
© Ceren Saner
„Mit mehr Sichtbarkeit für Minderheiten und dem Willen zum Zuhören seitens der Mehrheitsgesellschaft können wir die Welt jeden Tag ein wenig besser machen.“
Helene © Ceren Saner
Helene © Ceren Saner
Helene
Rabbinatsstudentin, Berlin, queer

Das Judentum als Religion ist mehr als nur zwei Strömungen. Es sind viele. Ebenso hat jede Person, die sich einer dieser jüdischen Glaubensrichtungen zugehörig fühlt, eine eigene persönliche Religionsauslegung. Diese ist beispielsweise von Traditionen aus der Familie oder auch der jeweiligen Gemeinde mitgeprägt. Für mich bedeutet Judentum viel mehr als die Religion. Es schließt die Kultur, die Küche, die Musik und verschiedene Traditionen und Bräuche ein. Mein Judentum findet auch nicht nur im Gebet statt, sondern in Gesprächen mit anderen Jüd*innen, bei Konferenzen, Seminaren und mit Freund*innen. Durch das Rabbinatsstudium ist mein Glaube in steter Bewegung. Wie in zwischenmenschlichen Beziehungen Änderungen eintreten, so verändert sich auch meine Beziehung zur Religion und zu Gott täglich.

Den Beruf der Rabbinerin fand ich schon als Kind spannend. Ausschlaggebend für meine Entscheidung, diesen Weg einzuschlagen, war letztendlich eine Konferenz in den USA. Dort konnte ich viele junge Rabbiner*innen treffen, hören und kennenlernen. In Deutschland gibt es nicht viele Rabbiner, schon gar nicht viele Rabbinerinnen und noch weniger junge engagierte, die sich für den Wiederaufbau des liberalen Judentums in Deutschland einsetzen. Der Gedanke, dass jüdisches Leben hier so aussehen könnte, mit mehr Raum für Offenheit und Vielfalt, bewog mich, selbst dazu beizutragen. Daher bin ich auch bereit, in den Medien präsent zu sein und mich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das ist mein Beitrag zur Sichtbarmachung der Vielfalt jüdischen Lebens und mein Beitrag zum Aufräumen mit Vorurteilen. Im Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam, einem liberalen Rabbinischen Seminar, lerne ich alle notwendigen Skills, um später als Rabbinerin in einer Gemeinde arbeiten zu können. All die Rabbinerinnen, die am Kolleg ausgebildet wurden, und all die Frauen des Judentums, die ich durch ihre Bücher kenne, sind mir nicht nur als Feministin eine Inspiration. Im Theologiestudium habe ich immer wieder Momente, in denen ich in den Texten der Thora und den dazugehörigen Kommentaren versinke. Was für andere vielleicht langweilig ist, ist für mich nicht nur spannend, sondern macht mir auch richtig Spaß. Mein Lieblingsfest ist Pessach. Ich mag die Komplexität des Festes, die Geschichte über den Auszug aus Ägypten, ihre Bildlichkeit und ganz besonders die Figur der Mirjam, laut dem Talmud eine der sieben Prophetinnen. Durch das Anrichten der verschiedenen Symbole für die Zeit der Sklaverei in Ägypten auf dem Sederteller erhalten diese Sichtbarkeit. Ich finde es auch gut, wenn die traditionellen sechs Symbole erweitert werden. Ein Beispiel: Die Aussage „Eine Orange gehört genauso wenig auf den Sederteller wie eine Frau an die Bima“, also an das Lesepult für die Thora, bewegt mich heute so wie andere Jüd*innen schon früher dazu, eine Orange auf den Sederteller zu legen. Es zeigt: Frauen, Feministinnen, queere Menschen, wir sind alle da. Und manche von uns auch am Lesepult so wie ich.

Konfliktpunkte bezüglich meiner Religion und meiner Queerness hat es für mich persönlich bisher nicht gegeben. Glücklicherweise kann ich mich da auf bereits geleistete Arbeit in der queer-jüdischen Theologie aus den USA und auch aus Deutschland stützen. Es gibt mittlerweile ganze Bücher mit Gebeten und Segenssprüchen, die Gott nicht nur als männlich ansprechen. Für mich passen queer und jüdisch sein hervorragend zusammen und das möchte ich auch anderen Menschen vermitteln. Niemand sollte sich zwischen seiner queeren und jüdischen Identität entscheiden müssen. Aufgrund dieser Überzeugung bin ich Gründungsmitglied des Vereins Keshet, der Räume für jüdische Queers schafft. Keshet ist wie die Orange auf dem Sederteller. Mein Anliegen ist vor allem, viele verschiedene Menschen zu erreichen und zu zeigen, dass es nicht DAS Judentum gibt.

© Ceren Saner
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„Queer und muslimisch? – Doch! Uns gibt es! Wir sind hier!“
Eylem © Ceren Saner
Eylem © Ceren Saner
Eylem
Sozialpädagogin, Berlin, queer

Für die meisten Menschen scheinen Queerness und Islam unvereinbar zu sein, wenn nicht gar einen Widerspruch darzustellen. Die weißdeutsche Mehrheitsgesellschaft ist irritiert, gibt ungefragt ihre Meinungen ab und verlangt Rechtfertigungen. In der muslimischen und in der queeren Community bleibt in der Regel der jeweils andere Aspekt unsichtbar. Dies sind zumindest meine persönlichen Erfahrungen, die ich auch im Freund*innenkreis gemacht habe.

Religion und Queerness sind prägende Teile meiner Identität. Religion war immer ein fester Bestandteil meines Lebens. Von klein auf wurde ich religiös muslimisch erzogen. Wir fasteten als Familie, wir begingen religiöse Feiertage und waren vor einigen Jahren gemeinsam auf einer Pilgerfahrt in Saudi-Arabien. Das war eine ganz besondere Erfahrung, die mich nochmals in meinem Glauben gefestigt hat. Im Laufe meines Outing-Prozesses habe ich mich sehr stark mit meiner Religion im Zusammenhang mit meiner Queerness beschäftigt. Inzwischen spreche ich lieber von einem „Inviting-in“, denn es geht für mich eher darum, wen ich in welcher Form an meinem Leben teilhaben lasse. Aber damals stand die Frage im Raum: Akzeptiert Gott mich so wie ich bin? Es war ein langer Weg, bis ich bestimmte Bilder meines Umfelds ablegen und meinen Zwiespalt überwinden konnte. Erst durch die Suche nach weiteren Personen und durch die Auseinandersetzung mit feministischen Perspektiven auf den Islam wurde ich in meinem Glauben bestätigt und bestärkt. Gott hat mich so erschaffen, wie ich bin. Letztendlich sollte es anderen vollkommen egal sein, wen ich begehre oder mit wem ich zusammenlebe. Zentral ist doch die Frage: Bin ich ein guter Mensch? Außerdem muss ich niemandem meinen Glauben beweisen. Das, was zählt, ist die Beziehung zwischen mir und Gott und niemand kann da hineinreden oder bewerten. Wer seid ihr alle, die ihr darüber urteilt, ob ich eine richtige Muslima bin oder nicht? Wie könnt ihr beurteilen, ob ich als queere Person muslimisch genug bin oder nicht? Das wird nur zwischen mir und Gott diskutiert.

Überwiegend sind religiöse Autoritäten und Übersetzer des Korans Männer, die patriarchale Strukturen eher erhalten als dekonstruieren. Gleichermaßen halten sich in der Mehrheitsgesellschaft vehement Stereotype, Vorurteile und eingefahrene Denkmuster. Die in Deutschland vorherrschenden Bilder des Islam sowie der migrantisch und muslimisch gelesenen Personen sind negativ. Und somit wird Queerness im Islam nur so verhandelt, als dass Muslim*innen Queerfeindlichkeit unterstellt wird. Im selben Gedankengang steckt die Vorstellung von schweren und komplizierten Outing-Prozessen muslimischer Queers. Hilfesuchende People of Colour begegnen in Beratungsstellen oft Personen mit vorgefertigten Annahmen und werden dadurch eigentlich an ihren Bedürfnissen vorbei beraten.

Aus diesem Grund habe ich mich während meines Outings auf die Suche nach Anschlussmöglichkeiten und Unterstützung durch Menschen mit ähnlichem Background begeben. Mittlerweile hat sich aus dieser Gruppe ein Verein gegründet, um anderen Hilfe und Beratung anzubieten. Dieser Verein steht für das, was ich meinem jüngeren Ich und allen, die mit sich selbst ringen, mitgeben möchte: Ihr seid nicht allein! Und ihr seid richtig, so wie ihr seid! Damit verbunden ist mein Wunsch nach mehr Sensibilität für Marginalisierte in der Dominanzgesellschaft sowie einem Abbau gängiger Vorurteile. Innerhalb der jeweiligen Communities wünsche ich mir vor allem mehr Sichtbarkeit. Denn ich bin da. Und ich bin viel mehr als queer und muslimisch. Mir ist vor allem wichtig, auch die positiven Seiten meines Weges zu betonen: Meine Identität ist kein Widerspruch und ich bin stolz auf das, was ich bin.

© Ceren Saner
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„Meine queere Identität betrifft jede Facette meines Seins. Sie gibt mir die Freiheit, mich selbst so zu formen, wie ich sein will. Genderqueer zu sein bedeutet für mich, mich für mein Ich nicht entschuldigen zu müssen.“
Cleo © Ceren Saner
Cleo © Ceren Saner
Cleo
Berlin, Künstler*in, genderqueer

Sich als queerer und zugleich religiöser Mensch zeigen zu können, hat etwas Heilsames. Schon als Kind war ich davon fasziniert, die Beschaffenheit von Dingen zu untersuchen und etwas in einem kreativen Prozess zu erschaffen. Als Jugendliche fotografierte ich und drehte mit Vorliebe Dokumentationen über Menschen und ihre Lebensweisen. Heute widme ich mich in meinem Studium und in meiner Kunst Menschen und ihren Biographien und versuche Poesie in meine Installationen einfließen zu lassen. Motive wie Trost, seelische Heilung sowie die Kanalisierung von negativen Emotionen und deren Umwandlung in positive sind in meiner künstlerischen Auseinandersetzung zentral. Diese Themen betreffen durchaus auch meine Familiengeschichte. Meine Mutter ist Jüdin, und leider wird der jüdische Teil von ihr meist versteckt und nicht gefeiert. Es ist viel Trauer und Schmerz mit ihrem Jüdischsein verbunden. Deshalb ist es für mich so wichtig, nicht nur das Jüdischsein zu feiern, sondern auch jemanden, der jüdische Freude empfindet.

Die Familie meines Vaters ist schwarz. Unsere Vorfahren wurden versklavt und ihre christliche Religion war Ausdruck einer starken Gemeinschaft und der Kraftschöpfung aus Gott. Der Kontrast von Trauma und Kraft ist in unserer Familie untrennbar mit Religion verknüpft und macht sie für mich zu einem komplizierten und sensiblen Thema. Dennoch bin ich schon von früher Kindheit an ein sehr religiöser Mensch. Mit meinem Glauben kann ich stärker aus allem hervorgehen und Rituale verleihen all dem, was nicht sichtbar, aber trotzdem spürbar ist, Wert und Bedeutung. 

Gerade in Anbetracht meiner Familiengeschichte ist es für mich von Bedeutung, den Kreislauf von Angst und Schmerz mit Liebe, Behutsamkeit und Selbstbewusstsein zu durchbrechen und zu überwinden und auf diese Weise offene Wunden zu heilen. Keine Angst zu haben, sondern mutig zu sein um meiner selbst willen, ist mir dabei sehr wichtig. Für meine Queerness bietet die Religion eine Art Entlastung, eine innere Ruhe und Sicherheit, das sein zu können, was ich bin. Schon als Kind hatte ich zu Hause sehr viel Freiheit, meinen Glauben selbst zu gestalten. So wählte ich stets frei den religiösen Kontext aus meinem Umfeld, der zu meiner Queerness passt. Dafür braucht es moderne und offene religiöse Gemeinschaften, die queere Menschen nicht aufgrund homofeindlicher Intoleranz oder patriarchaler Strukturen ablehnen. Die Berliner queere Community diskutiert viel, es gibt viel Austausch untereinander und mittlerweile sehr viel mehr Akzeptanz für die verschiedenen Identitäten. Dennoch gibt es vor Antisemitismus oder Rassismus nirgendwo absoluten Schutz. In der christlichen Mehrheitsgesellschaft fehlt meines Erachtens eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Religiosität bzw. Positionierung. Die christlichen Traditionen und eine christliche Prägung gelten als kulturelle Norm und werden unabhängig vom persönlichen christlichen Glauben praktiziert. Für eine Veränderung muss sich die Dominanzgesellschaft ihrer Verinnerlichung der christlich-kulturellen Norm zumindest bewusst werden.

Ich komme aus Schweden, habe amerikanische Wurzeln, meine Heimat ist Berlin. Ich bin religiös und jüdisch, ich bin biracial, ich bin queer. In meinem Leben sind mir Vorurteile, Ablehnung, Homofeindlichkeit und Antisemitismus begegnet und ich habe viele Kämpfe ausgestanden. Einige meiner Identitäten haben in meinem Innersten ein Zuhause gefunden, andere weilen noch in meiner inneren Diaspora. Aber ich bin ich und ich umarme all meine Identitäten.

© Ceren Saner
© Ceren Saner
„Fantasie und Glaube sind miteinander verwoben und beides ist für die Überlebens- und Heilungskraft sehr wichtig.“
Ahmed © Ceren Saner
Ahmed © Ceren Saner
Ahmed
Blogger, Schriftsteller und Berater, Berlin, queer

Besonders religiös bin ich in Ägypten nicht aufgewachsen. Meine Eltern waren zwar gläubig, wir beteten und fasteten zu Hause, aber es gab keinen Zwang zu religiöser Praxis wie bei manchen meiner Freunde. Als Kind war ich sehr fantasievoll und ein großer Fan von Science-Fiction- Filmen. So habe ich mit meinen Gebetsketten als Puppen gespielt, ich hatte eine blonde und eine dunkelhaarige Figur. Riten und Bräuche sowie ethische Werte sind allerdings sehr wichtig für mich und mein Leben. Mit Anfang 20 spürte ich eine tiefe Wut auf den Umgang mit und die Auslegung von Religion in Ägypten. Religionszugehörigkeit wurde wie etwas Erbliches behandelt und war nicht frei wählbar. Deshalb bezeichnete ich mich eine gewisse Zeit lang als Agnostiker oder gar Atheist. 

Als politischer Aktivist und Blogger und als Teil der queeren Community musste ich Ägypten nach dem Militärputsch im Jahr 2013 verlassen. Ich hatte keine andere Wahl. Auch heute noch birgt die Rückkehr ein Risiko. In Kairo fühlte ich mich gerade in den Jahren nach der Revolution 2011 sehr frei. In der Community herrschte Zusammenhalt, ich hatte innige Freundschaften und es gab viel Verbundenheit und Verbindlichkeit. In meiner Erinnerung ist das eine sehr wertvolle Zeit. 

Kernthemen meiner Texte sind Migration, Exil, Identität und Sexualität. Mit dem Schreiben für meine Blogs habe ich in Ägypten angefangen. In den Jahren 2009/2010 gab es dort eine große Szene für diese Art der Kommunikation und Interaktion. Vor allem waren Blogs ein politisches Instrument in Zeiten des Umbruchs und der Revolution. Ich habe ursprünglich einen medizinischen Background und habe in Kairo im Bereich Sexualität und Gesundheit gearbeitet. Diese Themen waren in der Öffentlichkeit wenig präsent, daher wollte ich durch meine Beiträge einen öffentlichen Diskurs anregen. Mit der Zeit ist mein Schreiben gereift. Seit ich in Deutschland lebe, schreibe ich viel persönlicher und meine Erfahrungen, meine Identität und meine Queerness fließen in die Texte ein.

Queer zu sein, ist eine offensive selbstbestimmte Art, gesellschaftliche Machtverhältnisse in Verbindung mit der eigenen Identität offenzulegen. Mein Inviting-in war ebenfalls ein selbstbestimmter Akt. Auf diese Weise habe ich ausgewählte enge Vertraute an meiner queeren Identität teilhaben lassen. Queer zu sein, hat für mich aber auch eine politische Dimension, denn ich bin ein politischer Mensch.

Ich lebe in Berlin seit sieben Jahren. Als Geflüchteter habe ich in Deutschland viele meiner Freiheiten verloren. Die Gesellschaft hier ist sehr individualistisch geprägt. Das trifft auch auf die queere Community in Berlin zu. Es kostet viel Energie, sich ein neues Leben und neue Netzwerke aufzubauen. Außerdem mache ich hier die Erfahrung, dass ich als Muslim stereotyp und klischeebeladen religiös gelesen werde. Immer wieder bestätigen Kommentare und Fragen eine verengte und vereinfachte Sichtweise auf den Islam und diese wird auf mich übertragen. Diese religiöse Zuschreibung deckt sich überhaupt nicht mit meiner Vorstellung von Religion. Mein Islam ist definitiv nicht die Religion von Autoritäten und Institutionen. Es schockiert mich jedes Mal aufs Neue, wie groß der Unterschied zwischen meiner eigenen Identität und der Sicht der Gesellschaft auf mich ist. Aus diesem Grund fällt es mir schwer, die Begriffe Religion und Religiosität auf mich anzuwenden.

Erst später fing ich an, mich intensiver mit dem Islam zu beschäftigen. Ich las religiöse und wissenschaftliche Texte mit queer-feministischem Ansatz. Erst dadurch habe ich verstanden, dass alles Interpretationssache ist. Die Idee, Andersgläubige zu den ‚Anderen’ und Bösen zu machen, beruht auf einem sehr oberflächlichen Verständnis der religiösen Texte. Im Verlauf meines Lebens habe ich mir die Religion zurückerobert, weil ich erkannt habe, dass der Glaube sehr wichtig ist. Denn Fantasie und Glaube sind miteinander verwoben und beides ist für mich als Überlebens- und Heilungskraft sehr wichtig.

© Ceren Saner
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„Queere Menschen sind von Gott gewollt. Sonst würde es uns nicht geben.“
Adriana © Ceren Saner
Adriana © Ceren Saner
Adriana
Schriftstellerin, Schleswig-Holstein, queer

Darüber zu reden, dass wir jüdisch sind, war in meiner Familie tabu. Erst durch die Schilderung des jüdischen Alltags in Anne Franks Tagebuch habe ich verstanden, dass ich Jüdin bin, denn auch wir haben den Schabbat eingehalten. Meine Großmutter hat 1927 meinen katholischen Großvater geheiratet und seinen Glauben angenommen. Verfolgt wurde sie trotzdem. Die Shoah überleben konnten sie und ihre Töchter nur in einem Versteck. Nach dieser traumatischen Erfahrung wurde bei uns nie über Verfolgung oder das Judentum gesprochen. In die Kirche musste ich „wegen der Leute im Dorf“. Einen tiefen Bezug zum Judentum fand ich durch meine Tante Adriana, Überlebende des KZ Bergen-Belsen. Sie hat an Freitagabenden Kerzen angezündet und mir hebräische Lieder beigebracht. Sie starb, als ich 8 war. Als ich mit Anfang 20 erstmals in eine Synagoge ging, habe ich mich wegen der Lieder und der Erinnerung an meine Tante sofort zu Hause gefühlt und fasste den Entschluss, zu meinen jüdischen Wurzeln zurückzukehren.

Die Entdeckung meiner jüdischen Identität verlief fast zeitgleich mit meinem lesbischen Coming-out. Ich war zu dem Zeitpunkt junge Mutter eines kleinen Sohnes und verheiratet. Obwohl unsere Ehe harmonisch verlief, spürte ich, dass ich Frauen liebe. Ich habe mich deshalb für mein Lesbischsein und gegen die Ehe mit meinem Mann entschieden. Die Trennung war traumatisch, denn ich verlor das Sorgerecht für meinen geliebten Sohn. Unfassbar, aber es war bis weit in die 90er-Jahre üblich, dass Richter Lesben nur aufgrund ihrer Homosexualität das Sorgerecht entzogen. 

Schon mit 16 habe ich mich in Mädchen verliebt. Noch lange Zeit nach meinem Coming-out habe ich mich in verschiedene Identitäten zerfallen gefühlt. Ich war das eine: intensiv in der Frauen- und Lesbenbewegung aktiv, oder das andere: stark in der jüdischen Gemeinde engagiert. Daher ist es großartig, dass es Organisationen wie Yachad und Keshet gibt, die eine Gleichzeitigkeit der Identitäten ermöglichen und repräsentieren. 

Ich mag die Struktur, die mir das Judentum im Alltag gibt. In meiner Gemeinde leite ich regelmäßig Gottesdienste. In jüdischen Gemeinden muss eine Frau / ein Mann dafür keine Ausbildung haben, sondern Rabbiner*in und die Gemeinde entscheiden, wer G´´ttesdienste leitet. Die Tora zu lesen bzw. zu singen, habe ich von Rabbiner Bea Wyler gelernt, dem ersten weiblichen Rabbiner nach 1945 in Deutschland.

Ganz besonders am Herzen liegen mir Kinder und Jugendliche. Für sie schreibe ich Bücher über Themen, die in dieser Gesellschaft noch immer zu wenig Beachtung finden, und biete kreative Schreibkurse an. Ich leite den Kinderschabbat und bereite Jugendliche auf ihre religiöse Volljährigkeit vor. Ich habe die Feministische Mädchenarbeit in Deutschland mitbegründet und lange in der Zufluchtsstätte des Vereins Wildwasser gearbeitet, der sich für Mädchen und Frauen engagiert, die sexuelle Gewalt überlebten.

Handlungsbedarf sehe ich in jüdischen Gemeinden in Bezug auf das Thema „Vaterjuden“ und „Diversität“. Für mehr Teilhabe brauchen wir dort viel Bewegung und Offenheit vor allem für junge Zuwanderer, die einen jüdischen Vater haben und jüdische Gemeinden mitgestalten wollen. Auch die Aufklärung über das Judentum und Begegnungen zum Thema „Jüdisches Leben heute“ sind mir zentrale Anliegen. Dafür engagiere ich mich bei Meet a Jew, gehe in Schulen und andere Einrichtungen und suche den Austausch. 

Mein Leben war lange wild und chaotisch. Ich lief mit 15 von zu Hause weg, war in der Berliner Hausbesetzerbewegung, lebte an vielen verschiedenen Orten. Seit jetzt 18 Jahren fühle ich mich in meiner Beziehung zu meiner Ehefrau sicher und geborgen. Beschützt fühlte ich mich außerdem schon seit meiner Kindheit durch eine höhere Macht, die ich Gott nenne. Ich zweifle nicht daran, dass es sie gibt. 

© Ceren Saner
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„Theologisch gesehen bin ich orthodox. Denn wenn man glaubt, dass die Gesetze von Gott kommen, wie kann dann ein Mensch entscheiden, welche befolgt werden und welche nicht?“
Erik © Ceren Saner
Erik © Ceren Saner
Erik
Kommunikationsberater und Schriftsteller, Lindau, schwul

Das Judentum ist mir nicht gerade in die Wiege gelegt worden. Meine Mutter ist anglikanisch getauft und vom Judentum meines Vaters habe ich erst nach seinem frühen Tod erfahren. In meiner Kindheit und Jugend wurde seine Religion nie konkret thematisiert, obwohl jüdische Verwandte zu Besuch kamen, meine orthodoxe Großtante dann jüdische Gerichte zubereitete und der Weihnachtsbaum Chanukka-Busch genannt wurde. Bis heute ist mir nicht ganz klar, warum mein Vater nicht wollte, dass wir davon wissen. In meinem Heimatort in Connecticut hatte ich eigentlich immer Berührung mit der jüdischen Religion. Es gab eine Synagoge, ich hatte Freunde, die Juden waren, und war regelmäßig zu Bar/Bat Mizwas eingeladen. Erst von meinem Onkel, dem Bruder meines Vaters, habe ich viel über die Familiengeschichte gehört und bin auf diese Weise dem Judentum nähergekommen. Je mehr ich mich mit dem jüdischen Glauben beschäftigte und hineinwuchs, desto mehr reifte auch die Idee zum Rabbinatsstudium am Jewish Theological Seminary in New York. Ich bin gläubig und ich spürte schon immer die Berufung, etwas Geistliches zu machen. Unterstützt wurde ich bei diesem Vorhaben von einem liberalen Rabbiner, der die Trauerfeier für meine Großtante ausrichtete. Da ich kein Hebräisch konnte, was eine Voraussetzung für das Studium ist, bin ich für mehrere Monate nach Jerusalem gegangen, um die Sprache vor Ort zu lernen. Je mehr ich mich mit dem Judentum auseinandergesetzt habe, umso mehr bin ich der Orthodoxie nähergekommen. An einem gewissen Punkt stellte sich für mich die Frage: Was für ein Jude bin ich eigentlich? Theologisch gesehen bin ich orthodox. Denn wenn man glaubt, dass die Gesetze von Gott kommen, wie kann dann ein Mensch entscheiden, welche befolgt werden und welche nicht? Das führte zu der Erkenntnis, dass ich nicht guten Gewissens liberal oder reformiert studieren kann, weil es theologisch nicht zu mir passt. Andererseits war es auch sicher, dass mir die Aufnahme an einem orthodoxen Seminar aufgrund meiner Homosexualität verweigert wird. Zugleich beschäftigte mich der Gedanke, ob ich aus meiner Berufung tatsächlich einen Beruf machen möchte. Ich kenne viele Rabbiner, Mönche, Priester. Als Geistlicher musst du immer „on“ sein. Rabbiner zu sein bedeutet, rund um die Uhr, tagein, tagaus jüdisch zu sein. Da ich feststellen musste, dass ich genau das nicht kann und nicht will, entschied ich mich letztlich gegen ein Rabbinatsstudium und ging zurück in die USA. Ich habe studiert und bin seitdem im Bereich der Unternehmenskommunikation tätig und seit Kurzem selbstständig.

Mein Coming-out hatte ich an der Universität in den 1990er-Jahren. Es war unproblematisch und in meinem Freundeskreis waren die Reaktionen positiv. Es änderte nichts. In meiner Familie gibt es tatsächlich recht viele Schwule und Lesben, daher war es auch kein Thema. 

Mittlerweile lebe ich seit 23 Jahren in Deutschland und werde noch heute von im Ausland lebenden Juden gefragt, wie ich als Jude in Deutschland leben kann. Ich persönlich habe mit meinem Judentum keine schlechten Erfahrungen gemacht, dennoch ist es hier durchaus ein Thema. Wenn Deutschland in der Modernität ankommen will, dann müssen die Menschen anerkennen, dass eine Gesellschaft immer bunt gemischt ist und alle ein Recht darauf haben, nach ihren Vorstellungen zu leben. Nicht das Festhalten an patriarchalen Strukturen oder Diskussionen über gegenderte Sprache oder den Grad der Diversität bringen Veränderung, sondern die Anerkennung der verschiedenen Identitäten. Der Mensch steht im Mittelpunkt und Menschen sind so, wie sie sind. Ich bin jüdisch und schwul. Was die Glaubensinhalte angeht, identifiziere ich mich weiterhin mit der Orthodoxie. All das spielt bei Lebensentscheidungen eine Rolle. Aber eben nicht die einzige. Vor allem entscheide ich mich dafür, Erik sein zu können. 

© Ceren Saner
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„Erst durch die Theologie und die Auslegung der Bibel habe ich begriffen, dass mein Geschlecht keine Rolle spielt. Mann, Frau, divers, trans, cis sind nur Labels, die andere uns aufdrücken. Für Gott zählt aber nur eins: Ob ich ihm mein Herz gegeben habe! Dann weiß ich auch, dass ich angenommen bin.“
Julia © Ceren Saner
Julia
Aktivistin/Beraterin/Model, Koblenz, trans Frau

Mein Leben lang begleiten mich die Themen Liebe und Religion. Mein gesamter Freundeskreis bestand bis zu meinem erzwungenen Outing aus Menschen, die in der Kirche aktiv sind. Meine Eltern – Mutter Baptistin, Vater Mennonit – haben sich auf einer Reise nach Israel kennengelernt. Unser Familienleben war immer eng mit der Gemeinde verbunden. Mein Vater war Diakon und ein wichtiges Bindeglied zwischen der Stadt und unserer Gemeinde. In meiner Kindheit gab es keinen Fernseher, also keinen „Verführer“, der ablenkte, und die Röcke der Frauen mussten mindestens knielang sein. Schon als ich ca. sechs Jahre alt war, probierte ich heimlich die Kleider und das Make-up meiner Mutter. Wenn ich erwischt wurde, zitierte man mir die Bibel, es sei Sünde und Männer dürften keine Frauenkleider tragen. Aber wer legt fest, ob ich ein Mann bin? Warum entscheiden andere, wie ich sein muss?

Das war aber auch der einzige Makel an meiner sonst glücklichen Kindheit. Erst mit dem Theologiestudium in Bonn machte es klick. Ich verstand, dass die Bibel unterschiedlich ausgelegt werden kann, und ich hinterfragte vieles, was ich mein Leben lang gehört hatte. Allerdings fehlte mir noch der Mut, das auch zu äußern. Zu dem Zeitpunkt war ich in einer sogenannten heteronormativen Mann-Frau-Beziehung verlobt. Meine Verlobte wusste alles, wurde aber mit dem nahenden Heiratstermin immer unsicherer und verlangte von mir plötzlich eine Konversionstherapie. Da wurde mir durch mein Studium bewusst: Trans zu sein ist ein Teil meiner Identität. Es gehört zu mir und geht nicht weg. Dagegen ankämpfen ist sinnlos. Ich bin auch nicht krank. 

Die Verlobung wurde gelöst und das Studium war eine Reise zu mir selbst. Ich musste wissen, wer ich eigentlich bin, und ich lernte, dass in der Bibel, z. B. bei Matthäus, Trans- und Intersexuelle vorkommen. Plötzlich verstand ich: Gott liebt bedingungslos! Diese innere Überzeugung manifestierte sich mehr und mehr.

Mein Outing als Trans-Frau verlief sehr dramatisch. Den Zeitpunkt, dieses lebensverändernde Ereignis sozialverträglich zu kommunizieren, konnte ich nicht selbst bestimmen. Ich hätte es mir anders, nicht von außen aufgezwungen, gewünscht. Andererseits weiß ich nicht, ob ich alleine je den Mut dazu hätte. Aber die Tatsache, dass ich kein Doppelleben mehr führen muss, hat mir eine enorme Last abgenommen. Das überstrahlt viele negative Dinge wie den Verrat durch die eigene Partnerin, den Verlust fast meines gesamten sozialen Umfelds, meiner Freundschaften und vor allem den Bruch mit meiner Familie. Diese Verletzungen waren wie ein Weltuntergang für mich. Ständig stand ich unter Rechtfertigungszwang, und zwar nicht nur in einem Konflikt, sondern in sehr vielen. Einige brachen den Kontakt zu mir ab. Andere musste ich selbst lösen, wobei die Trennung von meiner frisch verwitweten Mutter die schmerzhafteste war. „Irgendwie überleben“ war der einzige Instinkt, der mich noch angetrieben hat und dann musste ich ja auch noch mit meiner Transition klarkommen. So begann mein Engagement in der Community und heute bin ich dort eine der Leitfiguren, worauf ich zurückblickend sehr stolz bin. Jetzt arbeite ich ehrenamtlich in der Öffentlichkeits- und Pressearbeit bei der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität. Dort kann ich dazu beitragen, dass sich die Situation von queeren Menschen bundesweit verbessert. So war ich in verschiedene Gesetzgebungsverfahren involviert, wie z. B. beim Gesetz zum Verbot von Konversionstherapien oder der aktuellen Diskussion zur Abschaffung des Transsexuellengesetzes. Für mein Engagement wurde ich von einem Frauenmagazin zu den beeindruckendsten Frauen 2020 gewählt und dieses Jahr bin ich sogar für den Ehrenamtspreis nominiert. Religion spielt für mich immer noch eine bedeutende Rolle und meine religiöse Überzeugung ist existenzieller Bestandteil meines Lebens. Heute lebe ich selbstbestimmt. Für mich kommt es darauf an, wie meine Beziehung zu Gott ist und nicht, wie mich andere Menschen bewerten.

© Ceren Saner
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„Überall dort, wo ich wertgeschätzte Sichtbarkeit erzeugen kann, möchte ich eben diese Sichtbarkeit für meine Gemeinde und die queer-muslimische Community schaffen. In meiner Gemeindearbeit wünsche ich mir in erster Linie, Fürsprecher und Berater zu sein.“
Marco © Ceren Saner
Marco
Romanist, Aktivist und angehender Imam, Frankfurt a. M., trans Mann

Religiosität bedeutet für mich, ins Gespräch mit Gott einzutauchen. Das Gebet bietet eine gute Gelegenheit, im Alltag kurz innezuhalten, und hilft mir, mich innerlich zu sortieren. Ich bin religiös, aber nicht muslimisch aufgewachsen. Meine griechisch-orthodoxe Großmutter und meine sonst katholische Familie haben mir das Christentum nähergebracht. Die Auseinandersetzung mit meinem Glauben hat mich zum Islam geführt. Hier gibt es keine Institutionen und keine Hierarchien. Ich darf mit Gott direkt sprechen – ganz ohne eine Zwischeninstanz. Zur Zeit mache ich eine Imam-Ausbildung, studiere Islamische Theologie und führe queere und interreligiöse Eheschließungen beim Liberal-Islamischen Bund durch. Dort bin ich auch Vorstandsmitglied. Ich bin ein großer Fan davon, nicht selbst als Imam im herkömmlichen Sinne aufzutreten, sondern Menschen zu befähigen, Gebete anzuleiten oder selbst eine Freitagspredigt zu halten.

Für meine Identität als Trans-Mann habe ich einen langen Weg zurückgelegt. Bereits mit drei Jahren habe ich gemerkt, dass mein Körpergefühl nicht mit der Art zusammenpasst, wie mein Körper von anderen wahrgenommen, also konstruiert wird. Als kleines Kind dachte ich, dass mit meinem Körper etwas nicht in Ordnung sei, und dachte deshalb, er sei irgendwie kaputt gegangen. Immer wieder suchte ich nach Erklärungen und Bewältigungsstrategien für mein Ich-Gefühl. Ich dachte z. B., alle Mädchen fühlen sich in ihren Körpern unwohl oder wenn ich auf Mädchen stehe, dann muss ich ein Junge sein. Es blieb immer eine Unsicherheit, weil die Umwelt meine Annahmen nicht bestätigte. Ich war ungefähr 13 Jahre, als ich mich als lesbisch geoutet habe, obwohl sich das Wort nie so ganz richtig anfühlte. Mit 23 entdeckte ich durch Zufall einen Beitrag über einen Trans-Mann. Mit dem Begriff konnte ich zunächst nichts anfangen. Aber als ich die Geschichte des Mannes sah und hörte, wusste ich sofort: Das bin ich. In dem Moment war ich überglücklich. Endlich hatte ich ein Wort für das Gefühl gefunden, was ich schon seit ich denken konnte gefühlt habe. Ich hatte das richtige Wort für mich. Ein Wort, das mir zeigte, dass es noch andere Trans-Menschen weltweit gab und gibt. Ein Wort, das Existenz gab. Trotz allen Glücks führte diese Erkenntnis auch zu Stress und psychischer Belastung. Trotz neuem Vornamen und Abbinder um meine Brust wurde ich von der Außenwelt als Frau wahrgenommen und mir wurde an vielen Stellen aktiv das Mannsein abgesprochen. Das zeigt, wie fest in unserer Gesellschaft die Zuordnung von bestimmten Körperteilen und Bildern zu bestimmten Geschlechtern ist. Meine Suche nach dem richtigen Wort verdeutlicht, wie viel Leid Trans-Kindern zugefügt wird, wenn ein Begriff wie „trans“ nicht in ihrer Lebens- und Sprachwelt vorhanden ist. Für eine entsprechende Aufklärung brauchen wir viele neue Kinderbücher. Letztendlich begann ich im Jahr 2017 Hormone einzunehmen. Nach der Anpassung meiner Brust im letzten Jahr empfand ich große Dankbarkeit. Es war ein sehr spiritueller Augenblick, als ich in der Krankenhauskapelle betete und Gott dafür dankte, alles gut überstanden zu haben. Nach all dem befürworte ich die Abschaffung des Transsexuellengesetzes, welches in sich schon eine Diskriminierung ist.

Seit ich auch optisch als Mann wahrgenommen werde, habe ich auch männliche Privilegien in der Gesellschaft. Im Vergleich zu Frauen werden sie z. B. oft als kompetenter wahr- und ernstgenommen. Über die eigenen Privilegien kann man nachdenken. Mein Privileg kann ich so nutzen, dass ich die Stimmen der anderen verstärken kann. Ich halte das für meine Pflicht, weil Gott alle Menschen gleich geschaffen hat. Mein Privileg auszunutzen wäre für mich eine Selbsterhöhung, die mir nicht zusteht.

Mein Vater, der als Angehöriger der romeiko-türkischen Minderheit nach Deutschland kam, hat mir beigebracht: „Sei niemals dankbar dafür, dass ein Mensch dich wie einen Menschen behandelt. Das sollte eine Selbstverständlichkeit und die Grundlage unserer Gesellschaft sein.“

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„Das queerste Phänomen des christlichen Glaubens ist doch Gott* selbst. Wer sonst hat so viele Namen?“
Natascha © Ceren Saner
Natascha © Ceren Saner
Natascha
Pastor*in der Nordkirche und Referent*in im Frauenwerk Altholstein, Kiel, queer

Als Pastor*in stehe ich für christliche Religiosität. Zugleich bin ich queer. In meiner Person sind Queerness und Religiosität eng verwoben und bilden einen gemeinsamen Kern. Im Alltag wird in der Regel nur eine dieser beiden Facetten abgerufen. Eine Trennung in das jeweils eine oder andere wird aufgrund von Vorurteilen eher von außen vorgenommen. Ich selbst habe mein Queersein und meinen Glauben nie als Widerspruch erlebt. Queer ist für mich ein Raum, der sich öffnet und der weit und bunt ist. Dieses Gefühl trifft ebenso auf meinen Glauben zu: Mir ist es wichtig, Weltbildern entgegenzuwirken, die Gegensätze betonen und damit die Unvereinbarkeit von verschiedenen Seinsformen begründen. Manche untermauern mit religiösen oder biblischen Argumenten, dass gleichgeschlechtliche Liebe nicht gottgewollt sei. Dem widerspreche ich als Mensch und als Pastorin. Glaube bedeutet für mich Lust an Vielfalt.

Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Erst im Konfirmand*innenunterricht wuchs bei mir der Wunsch, Pastorin zu werden. Die mich begleitenden und prägenden Pastor*innen waren sehr politisch, links, eine Demo war für sie quasi ein Gottesdienst. Mein Glaube wurde für mich so auch zu einer politischen Haltung. Ich zeige Widerständigkeit, WEIL ich glaube. Religion bedeutet für mich kritisches Denken: die Überprüfung realer Zustände im Vergleich zu dem, was ich als gottgewollt verstehe. Das ist das Herzstück des christlichen GIaubens. Mit diesem Verständnis ecke ich gelegentlich innerhalb und außerhalb der Kirche an. Denn das bedeutet auch die eigene Tradition immer wieder kritisch in den Blick zu nehmen.

Im Laufe meines Theologiestudiums habe ich sehr wohl auch gehadert, weniger mit dem Glauben als mit der Institution Kirche. Es begleiteten mich Fragen wie: Will ich wirklich mit der Kirche an sich in Verbindung gebracht werden? Eine Entscheidung dagegen hätte aber bedeutet, tatenlos zu bleiben. Als Pastorin habe ich die Gelegenheit, nicht nur mitzugestalten, sondern, ohne unbedingt mit allem mitzugehen, den Glanz des Glaubens etwas erstrahlen zu lassen.

Für mich ist queer und religiös zu sein kein Widerspruch. Im Gegenteil. Queer sein bedeutet für mich, sich außerhalb der Norm zu bewegen. Jesus hat nichts Anderes getan. Er hat unumstößlich erscheinende Lehrmeinungen in Frage gestellt. Deshalb bin ich es manchmal müde, mich im kirchlich-religiösen oder im queeren Bereich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich so glaube, wie ich glaube, und so lebe, wie ich lebe.

Ich hatte kaum Schwierigkeiten während meines Coming-out-Prozesses, lediglich mit Zuschreibungen von außen, die es durchaus auch in der schwul-lesbischen Szene gibt. Ich wollte kein Label, ich wollte einfach nur Ich sein. Aus diesem Grund fand ich den Begriff queer für mich besonders zutreffend und befreiend. Der Begriff „queer“ lässt viel Raum, um sich darin zu finden. In meinem weiten Raum von Queerness und Glauben spüre ich: Hier bin ich gemeint. Hier brauche ich keine Flagge, um angenommen zu werden. Das ist Segen für mich: Gesehen zu werden, wie ich bin.

Viele verschiedene Identitäten könnten sichtbarer sein, wenn wir auf Schubladen verzichten würden. Mehr Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen, mehr Flexibilität im Denken sowie Gespräche MITEINANDER, nicht übereinander, ist mein Wunsch an die Mehrheitsgesellschaft – das verhindert Vorurteile und Diskriminierung auf allen Seiten. Und ich würde mir wünschen, dass all die widerständigen queer-feministischen Glaubensansätze genauso wahrgenommen werden würden wie die althergebrachten Theologien. Das queerste Phänomen des christlichen Glaubens ist doch Gott* selbst. Wer sonst hat so viele Namen?

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„Mein Judentum und meine Queerness zu vereinbaren, habe ich nie als problematisch empfunden.“
Rachel © Ceren Saner
Rachel © Ceren Saner
Rachel
Stadtführerin und Tänzerin, Berlin, queer

Seit mehr als zehn Jahren lebe ich jetzt in Berlin. Geboren bin ich in Amerika. Meine Kindheit war stark vom Judentum geprägt. Wir besuchten regelmäßig die Synagoge und das Gemeindezentrum. Als Alleinerziehende fand meine Mutter große Unterstützung in der jüdischen Community. Ich war froh, nach meiner Bat Mizwa endlich mehr eigene Entscheidungen treffen zu können. Andere Freizeitaktivitäten bedeuteten mir als Jugendliche mehr als das Gemeindeleben und auf dem College spielte meine jüdische Identität eher keine Rolle für mich. An den Gedanken, dass ich Deutschland als meine Heimat gewählt habe, musste sich meine Familie zunächst gewöhnen. Meine beiden Großväter haben im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft und einer gehörte wahrscheinlich zu den Befreiern von Dachau. Sie wissen aber mittlerweile, dass ich in Berlin sehr glücklich bin, und haben meine Entscheidung akzeptiert.

Erst seitdem ich in Deutschland lebe, wurde auch mein Jüdischsein wieder wichtiger. Ich arbeite als Stadtführerin zur jüdischen Geschichte Berlins und besonders jüdischen Touristengruppen scheint es wichtig zu sein, dass ich Jüdin bin. Auf diese Weise habe ich mich meiner jüdischen Identität angenähert und identifiziere mich erneut mit meinem jüdischen Background. Allerdings gehe ich nicht in die Synagoge, da ich die dort noch häufig gelebten altmodischen patriarchalischen Strukturen als einschränkend empfinde. Meines Erachtens bräuchten gerade die Institutionen sehr viel mehr Angebote für junge Menschen. Auf diese Weise würden sich die Gemeinden vielerorts verjüngen. Aber ich mag die jüdische Kultur und ihre Traditionen. Ich pflege heute jüdische Rituale, für die ich mich als Jugendliche weniger begeistern konnte. Mit meiner Community veranstalte ich beispielsweise jedes Jahr ein queeres Seder-Essen und ich entzünde regelmäßig die Kerzen meiner Menora.

Mein Judentum und meine Queerness zu vereinbaren, habe ich nie als problematisch empfunden. Das liegt sicherlich auch an den Menschen, mit denen ich mich umgebe. Mit verschiedenen jüdischen Kolleg*innen organisiere ich die Kabarettshow Jews! Jews! Jews!. Ein Name, den man so schnell nicht vergisst! All die Menschen, die Teil unseres Kabaretts sind, sind, wenn sie nicht jüdisch sind, auf jeden Fall queer oder gehören einer marginalisierten Gruppe an. Schließlich ist unsere Show ja auch ein queeres Kabarett. Meine zweite Karriere ist der ausdrucksstarke Burlesque-Tanz. Ich tanze schon, seit ich laufen kann. Es macht mich glücklich und bedeutet mir sehr viel. Als Burlesque-Tänzerin genieße ich zusätzlich die Freiheit, auf der Bühne mein Konzept, meine Kostüme und meine Choreographie zu präsentieren. Beim Burlesque-Tanz stehen auch gesellschaftlich verankerte Körpernormen, die an Frauen gerichtet sind, nicht so sehr im Mittelpunkt. 

Als Jüdin in Deutschland bin ich allerdings auch mit verschiedenen Klischees konfrontiert, wie z. B. mit der Aussage, ich sähe eigentlich gar nicht jüdisch aus. Wie sehen Juden denn aus? Zudem begegne ich immer wieder Menschen, die noch nie Jüd*innen getroffen haben. Sie verbinden Jüd*innen lediglich mit dem Holocaust. Diese Verknüpfung und die begrenzte Sicht auf das Judentum sind äußerst frustrierend. Ich möchte als Jüdin in Deutschland nicht nur als Opfer betrachtet werden. Ich bin lebendig und kein Relikt der Geschichte und wünsche mir, dass Jüd*innen in Deutschland als Menschen wie du und ich und als Teil der Gegenwart wahrgenommen werden. Auch die Betrachtung von Symbolen des Judentums sollte losgelöst sein von beschränkten Kategorien wie Weltkriegsgeschichte, Israel oder Orthodoxie. Für mich persönlich sind Toleranz und Akzeptanz Grundpfeiler des Jüdischseins. Queerness und jüdische Kultur sind Teile meiner Identität. Beides lebe ich auch in meiner Arbeit. Meine queerlesque Community und ich machen die jüdische kulturelle Vielfalt in Berlin sichtbarer und haben Spaß dabei.

Mach mit!