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Kadir

Schriftsteller und Aktivist, Hannover, queer

Glauben und Queerness sind untrennbar miteinander verwobene Teile meiner Identität. Sie sind beide mit verschiedensten Strängen meines Seins verknüpft und gehören zur Gesamtheit meines Ichs. Im Islam, wie ich ihn bei meinen Eltern kennengelernt habe, muss das Individuum Gott nicht in Moscheen suchen, es braucht auch keinen Imam als Vermittler. Alles kann mit Gott selbst verhandelt werden, denn „Allah ist uns näher als unsere Halsschlagader“. Bei der Auseinandersetzung mit meiner Homosexualität und der Frage nach dem Warum hatte ich einen Gesprächspartner. Gott war bei meiner Identitätssuche mein persönlicher Wegbegleiter.

Als meine Familie in den 1990er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, war ich 12 Jahre alt. Zu der Zeit brannten Asylheime in Mölln, Köln und Solingen. In und um unsere Kleinstadt gab es eine ausgeprägte Neonazi-Szene, was beispielsweise dazu führte, dass meine älteren Brüder nur als Gruppe in die Disco gingen. Von einer schwulen Subkultur in der Kleinstadt keine Spur. Film und Fernsehen waren in der Regel homophob und vermittelten ein extrem reduziertes Bild homosexueller Männer: Als bester Freund der Protagonistin, als todgeweihter Aids- oder Krebskranker oder als extrem affektierter Typ. Zusätzlich waren die 1990er-Jahre eine Zeit ohne Internet und ohne Social Media. In meiner Teenagerzeit wurde Homosexualität nicht nur gesellschaftlich und sozial abgelehnt, sondern war durch den § 175 Strafgesetzbuch zusätzlich strafbar. Und wegen meiner nicht-weißen Biographie gab es eh wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit meiner Homosexualität. Gerade für Jugendliche in der Findungsphase braucht es Rückhalt und das war für mich mein Glaube.

Mein Coming-out hatte ich mit 18 nach meinem Auszug von zu Hause. Die ersten Gespräche führte ich mit meinen Geschwistern, erst mit meinen beiden älteren Schwestern, dann mit meinen beiden älteren Brüdern. Mit meinen Eltern hatte ich dagegen nie ein richtiges Coming-out-Gespräch, wobei ich aber auch nichts verheimlichte. Als ich mit meinem damaligen festen Freund zusammenwohnte, kamen sie zu Besuch und sahen, dass es in dieser WG keine getrennten Schlafzimmer gab. Kommentiert haben sie das aber nicht. Mittlerweile ist zu viel Zeit vergangen, um ein Coming-out-Gespräch mit meinen Eltern zu führen.

"Wenn Queerfeindlichkeit nur im Zusammenhang mit muslimischen Familien thematisiert wird, führt dies zu einer Unsichtbarkeit von Homo- und Transfeindlichkeit in der Gesamtgesellschaft."

Doch nicht immer verläuft ein Coming-out in Familien, ob muslimisch oder nicht, so unkompliziert. Viele Beratungsstellen raten zu einem klaren Coming-out. Für Menschen mit Migrationserbe ist das aber nicht immer die beste Option, weil Familie und Community oft eine wichtige Unterstützung für ein Leben in der Mehrheitsgesellschaft bedeuten.

Wenn Queerfeindlichkeit nur im Zusammenhang mit muslimischen Familien thematisiert wird, führt dies zu einer Unsichtbarkeit von Homo- und Transfeindlichkeit in der Gesamtgesellschaft. Innerhalb queerer Communities gibt es auch offenen Rassismus: Zahlreiche Datingplattformen erlauben es aufzulisten, welche Herkunft, Hautfarbe oder Religion man grundsätzlich nicht kennenlernen will. Diese vorformulierte Ablehnung ist unglaublich verletzend. Stets sollen wir vom Gegenüber gedachte Kategorien erfüllen. Das gilt übrigens für die Integrationspolitik per se, deren Botschaft ist: Als Mensch mit Migrationsgeschichte, als Black Person of Colour und dann auch noch queer, sollst du dich so formen, dass du zur Mehrheit passt. Die Botschaft lautet: „Du sollst so werden wie wir“.

Nicht-weiße Biographien unterscheiden sich von weißen Biographien. Aus dieser Tatsache heraus entstand auch unser Verein prismaqueer. Statt Integration im Sinne einer Angleichung zu erwarten, müssen plurale, mehrdeutige und sich wandelnde Identitäten Teil unserer Gesellschaft sein dürfen: Ich bin Kadir. Ich bin ein Mann, verstehe mich als solcher, bin mehrsprachig, pflege ein positives Verhältnis zu anderen Ländern/Nationen und bekenne mich zu Deutschland. Und ich bin queer und Muslim. Ich bin all das – ganz ohne Widersprüche.

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